Vereinsamung gilt zu Unrecht als privates Schicksal. Der schrittweise Verlust wichtiger sozialer Bindungen ist auch ein gesellschaftliches Risiko. Betroffene – gleichgültig ob alt oder jung – können dem oft mit eigenen Mitteln nicht entkommen. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche auf Einsamkeit? Fördert sie diese oder hilft sie, Einsamkeit zu überwinden? Antworten suchte jetzt das Anwenderforum „Einsamkeit 4.0“ der sieben caritativen Fachverbände im Paderborner Heinz Nixdorf Museums Forum.

Über 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den sieben Verbänden – Caritas-Konferenzen, IN VIA, Kreuzbund, Malteser Hilfsdienst, Sozialdienst katholischer Frauen, Sozialdienst Katholischer Männer und Vinzenz-Konferenzen – und am Thema Interessierte kamen zum Anwenderforum. Da durfte auch ein Grußwort von Paderborns Bürgermeister Michael Dreier nicht fehlen. Schließlich ist Ostwestfalen-Lippe die erste digitale Modellregion in Nordrhein-Westfalen, die vom Land gefördert wird, mit der Stadt Paderborn als Leitkommune. Paderborn steht wie kaum eine zweite Stadt für die Chancen, die die Digitalisierung für die Bürgerinnen und Bürgern bietet.

Im Fokus der Veranstaltung, die von der Caritasstiftung und der Stadt Paderborn unterstützt wurde, stand das Spannungsfeld von Einsamkeit und Digitalisierung: „Wir möchten für Themen sensibilisieren, die bislang nicht im Vordergrund standen“, sagte Josef Lüttig, Diözesan-Caritasdirektor im Erzbistum Paderborn. „Gleichzeitig wollen wir Aufmerksamkeit dafür schaffen, was technisch heute beispielsweise in der Pflege schon möglich ist.“

Die zunehmende Digitalisierung unseres Alltags und die Entwicklung künstlicher Intelligenz werfen Fragen auf, schüren aber auch Hoffnungen. Steckt in diesen Entwicklungen etwas gegen Vereinsamung und Isolierung der Menschen, gerade auch im Alter? Grundsätzliche ethische Fragen der Digitalisierung beschrieb Ägidius Engel, Referent für Ethische Bildung des Diözesan-Caritasverbands. Konkret müsse zum Beispiel diskutiert werden, ob menschliche Fürsorge und Zuwendung an eine Maschine delegiert werden darf.

Der digitale Wandel gilt als elementarste Veränderung nach der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Die Digitalisierung bestimmt, wie wir arbeiten und leben. Egal um welches Arbeitsfeld es im karitativen Sektor geht, es findet zunehmend digital vernetzt statt. 97 Prozent der jungen Menschen und auch ein Großteil der Menschen der Generation 60 plus sind mehrere Stunden am Tag online. Immer mehr Menschen nutzen soziale Medien wie Facebook und Instagram. „Gleichzeitig fühlen sich elf Prozent der Menschen einsam – das sagen Studien. Sogar jeder dritte Mensch fürchtet sich davor, einsam zu werden“, sagte Josef Lüttig. „Soziale Medien können die Einsamkeit noch verstärken, wenn sie die ‚Offlinekommunikation’ ersetzen und diese nicht nur ergänzen.“ Nach Impulsvorträgen wurden die Schwerpunktthemen in mehreren Workshops vertieft.

Sozial muss digital werden

Was digitale Assistenzsysteme im Bereich ,homecare‘ heute bereits leisten können, berichtete Bernd Falk, Bereichsleiter des Malteser Service Center in Köln. Ein Beispiel: Sensoren im Wohnumfeld von Senioren ermitteln zunächst deren individuelles Bewegungsprofil. „Auffälligkeiten und Abweichungen vom Alltäglichen werden per App an Angehörige gemeldet. Kritische Algorithmen gehen gleich an eine Notrufzentrale. Das ist nur ein Beispiel für die sinnvolle Ermittlung von Daten zwecks Nutzbarmachung beim Bewohner. Damit unterstützen und sichern wir Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag.“ Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang, ob die Erfassung dieser sehr persönlichen Daten neue Freiheiten schafft oder aufgrund der Überwachung eben diese Freiheit einschränkt.

Aber Digitalisierung kann noch viel mehr, so Bernd Falk. „Sie kann Kommunikation fördern und Routinen vereinfachen.“ Ist ‚1984 – Big Brother‘ nicht eigentlich schon vorbei? „Ja – auch ,Big Data‘ ist schon vorbei. Wir sind bei einem ,Data Tsunami‘, beschrieb Falk die gesammelte Datenmenge und die damit einhergehende Kontrollmöglichkeit. So seien 90 Prozent der global existierenden Daten in den letzten zwei Jahren entstanden. Sein Fazit: „Ohne ethische Leitplanken kommen wir in der Pflege nicht aus. Intelligente technische Lösung helfen im Alltag und fördern selbstbestimmtes Leben der uns anvertrauten Menschen. Sie unterstützen Betreuungsdienste und Pflegekräfte, können sie aber nicht ersetzen.“

Passend dazu beschäftigen sich Forscher der Universität Paderborn aktuell mit der Robotik in der Pflege. Die Teilnehmer des Forums lernten das Projekt „Orient“ kennen, bei dem die Universität Paderborn mit der schwedischen Mälardalen University und der finnischen Lappeenranta University of Technology Stakeholder kooperiert. Bei dem Projekt werden Menschen bezüglich ihrer Einstellung zu Robotik in der Pflege befragt. Durch die Weitergabe der Aussagen der Stakeholder werden die Informations- und Kommunikationsbedarfe in Bezug auf die Robotik in der Pflege herausgestellt.

Chancen und Probleme der Mediennutzung bei Jugendlichen thematisierte hingegen Patrick Portmann, Leiter der Einrichtung ‚Auxilium reloaded‘, einem Haus für Mediensüchtige der Malteser Werke in Dortmund. Als Beispiele nannte er die Schaffung neuer sozialer Normen durch Instagram und Co. Viele Jugendliche fühlten sich unter Druck gesetzt, sich online immer aufwendiger präsentieren zu müssen. Einsame Jugendliche flüchten sich, so Portmann, häufig in digitale Welten. Dort werden sie nicht selten zum Opfer – sowohl durch Cybermobbing als auch durch Beeinflussung durch radikale Gruppen. Gleichzeitig sei es durch das Internet heute deutlich einfacher, Kontakte zu pflegen und Freunden und Familie nah zu sein, auch wenn man an unterschiedlichen Orten lebt.

Wie der ländliche Raum von der Digitalisierung profitieren kann stellte Heidrun Wuttke vor. Das Gemeinschaftsprojekt der Kreise Lippe und Höxter „Smart Countryside“ will bedarfsgerechte Mobilität im ländlichen Raum schaffen und die e-Partizipation verbessern. Dabei geht es um nicht weniger als die Zukunftsfähigkeit und Lebensqualität des ländlichen Raums. Im Rahmen von Smart Countryside sollen intelligente Kommunikationsplattformen für das Ehrenamt, assistierte Einsatzplanungen und neue Mobilitätskonzepte im Öffentlichen Personennahverkehr entstehen.

Referenten des Anwenderforums und die Geschäftsführer der sieben caritativen Fachverbände im Erzbistum Paderborn gemeinsam mit Paderborns Bürgermeister Dreier vor dem Heinz Nixdorf Museums Forum. Foto: Frank Kaiser